Archive for the ‘Methoden’ Category
Scholastik und WiWi °
Die Katholische Theologie des Mittelaters ist die Mutter der Geisteswissenschaften, das wird nicht gerne gehört,aber es ist so. Stefan Blankertz hat mich in der letzten Zeit immer wieder mit der Nase auf den Kern dieser Tatsache gestossen. Letztes Jahr im August ist mir die Errettung der Scholastik des Institut für Wertewirtschaft aufgefallen, Gregor Hochleiter kümmerte sich um die Wertlehre der Spätscholastik. Um was geht es bei der Scholastik allgemein methodisch betrachtet?
Scholastik, abgeleitet vom lateinischen Adjektiv scholasticus („schulisch“, „zum Studium gehörig“), ist die wissenschaftliche Denkweise und Methode der Beweisführung, die in der lateinischsprachigen Gelehrtenwelt des Mittelalters entwickelt wurde.
Bei dieser Methode handelt es sich um ein von den logischen Schriften des Aristoteles ausgehendes Verfahren zur Klärung wissenschaftlicher Fragen mittels theoretischer Erwägungen. Dabei wird eine Behauptung untersucht, indem zuerst die für und die gegen sie sprechenden Argumente nacheinander dargelegt werden und dann eine Entscheidung über ihre Richtigkeit getroffen und begründet wird. Behauptungen werden widerlegt, indem sie entweder als unlogisch oder als Ergebnis einer begrifflichen Unklarheit erwiesen werden oder indem gezeigt wird, dass sie mit evidenten oder bereits bewiesenen Tatsachen unvereinbar sind.
Der heute bekannteste Teil der scholastischen Literatur handelt von theologischen Fragen. Die Scholastik war jedoch keineswegs auf theologische Themen und Ziele begrenzt, sondern umfasste die Gesamtheit des Wissenschaftsbetriebs. Die scholastische Methode wurde als die wissenschaftliche Vorgehensweise schlechthin betrachtet.
Als wirtschaftsliberale Urgesteine gelten gemeinhin die Theoretiker Smith,Ricardo, Say etc.. und einer ihrer geharnischten Kritiker war Karl Marx. Die wirtschaftsliberalen Urgesteine oder Klassiker konnten ihrerseits auf ökonomische Vorarbeiten der Spätscholastik zurückgreifen. Thomas E. Woods Jr eröffnet in seinem ef-Artikel “Kirche und Wirtschaft: Der freie Markt und der katholische Glaube” im Rahmen der Papstdebatte diesen scholastischen Denkraum ökonomischer Überlegungen der Magister des Mittelalters, das forthin nicht mehr so dunkel scheinen möge, wie allgemein angenommen – sein Buch „Sternstunden statt dunkles Mittelalter“ hat nun einen Platz auf meine Leseliste. So wird die retrospektive Kette auch des ökonomischen Denkens immer länger und ich komme dem liberalen Denken wissenschaftsgeschichtlich eine beachtliche Wegstrecke näher.
PS: Wer grundsätzlich Lust zum philosohieren verspürt,kann sich aktuell bei Zettel zum lesen und disputieren einfinden.
° = Wirtschaftswissenschaft
references:
Leben im Mittelalter
Wurzeln des Liberalismus
Psychiatrie,Antipsychiatrie und die radikale Linke
In den Hoch-Zeiten linksradikaler Bewegungen wurde fast alles zum kritikablen Gegenstand: Die Familie,die Ehe,überhaupt Institutionen wurden vor allem als Ausprägungen des Kapitalverhältnisses unter Staatsherrschaft beschrieben und in der Regel zum Teufel gewünscht – in Utopia würden sich die ganzen Probleme und Konflikte schon lösen lassen,das Paradies des Kommunismus wurde als erhabene Gesamtlösung herbei phantasiert und einige Kilometer an Schrifttum wurden in diesem Sinne auch produziert.
Anno 2008 kümmern sich einige Protagonisten der neuen Linken wiederum um die Institution der Psychiatrie,sie ist nun – knapp 9 Jahre nach dem Foucault Tribunal 1999 in Berlin – wieder an der Reihe. Ob die heutigen Erzähler etwas vom Fach der Psychiatrie verstehen,kann ich noch nicht beurteilen,denn der vorgenommene Gegenstand wird anhand linker Bewegungsrealitäten aufgedröselt. Solitäres Konkretum ist die Antipsychiatriebewegung der 70iger und 80igerJahre,als Projekte in Deutschland werden das Sozialistische Patientenkollektiv aus Heideberg – ein ekelhafter Antiimp-Haufen – und die IrrenOffensive aus Berlin – ein aus dem Autonomenkonzept entwickelter Betroffenenkreis – theoriegeschichtlich und konzeptionell aufgearbeitet. Waiting gibt mit dem Beitrag: Theorie gegen den Psycho-Knast schon einen ersten Blick auf die Stossrichtung der Kritik frei.
In diesem Beitrag habe ich einige allgemeinere Infos zum Themenkreis Psychiatrie schlaglichtartig aus meinen Blogs zusammen geführt. Praktische Hilfen für irre Menschen in Krisen bieten im Rahmen der Antipsychiatrie die “Villa Stöckle” (das Weglaufhaus) in Berlin und in Saarbrücken ein antipsychiatrisches Tageszentrum, das vor zwei Jahren seine Pforten geöffnet hat. Ohne Staatsknete funktionieren übrigens beide Projekte nicht,sie sind eine sehr schmale Ergänzung des eher standardisierten psychosozialen Angebots der als wissenschaftliche Disziplin bereits abgewickelten Sozialpsychiatrie,resp. zur heutigen Gemeindepsychiatrie.
Auf der HP der Kinzig 9 wird die Veranstaltung wie folgt vorgestellt:
12.März 20:00 Größenwahn
Einführung in die Antipsychiatrische Theorie
Die ursprünglich aus der Linken und radikalen Linken formulierte Kritik an
der am Rand der Gesellschaft operierenden Institution Psychiatrie ist mit
dem Beginn der Psychiatriereformation in den 70er Jahren zum erliegen
gekommen. Eine Zusammenarbeit mit der radikalen Linken ist seitdem in der
Neuen Antipsychiatrischen Bewegung nicht mehr erfolgt und auch nicht mehr
bewusst angesteuert worden. Die Neue Antipsychiatrische Bewegung besteht
aus Psychiatriebetroffenen und nicht mehr aus ProfessorenInnen oder
PsychiaterInnen. Bei Selbstzufriedenheit, Defensivkämpfen und
einzelnen Erfolgen ist die Antipsychiatrische Bewegung zum Stillstand
gekommen. Wie bei einigen anderen der aus der Außerparlamentarischen
Opposition hervorgegangenen, partikular arbeitenden Gruppen wurde
auch in der Antipsychiatrischen Bewegung vergessen, sich in Bezug zu
Kapitalismusanalyse zu setzen. Scheinbar befreit vom Kontext wird vor sich
hin gewerkelt.
Im Vortrag sollen die Theorien der Antipsychiatrie einführend vorgestellt
werden. Wichtige Theoretiker, wie Cooper, Laing, Basaglia und Szasz werden
mit ihren Theorien besprochen und der der Psychiatrie innewohnende Bezug
zum Kapitalismus aufgedeckt. Aktuelle Antipsychiatrische Institutionen und
Bewegungen werden erwähnt. Ziel soll das Aufzeigen von
Anknüpfungspunkten der Antipsychiatrie zur radikalen Linken sein.
Der Referent David Wichera arbeitet seit 2 1/2 Jahren im Weglaufhaus „Villa
Stöckle“, der einzigen antipsychiatrischen Einrichtung in Deutschland. Er
ist dort im selbstverwalteten Team als studentisch Beschäftigter tätig mit
besonderem Schwerpunkt auf Öffentlichkeitsarbeit.
Ob die aktuellen Streitdiskussionen des Psychiaters Volkmar Aderhold aus Greifswald über die Unsinnigkeit/Schädlichkeit von Psychopharmakotherapie innerhalb der Psychiatrie von den Linken aufgreifbar sein werden? Auf die Idee,dass psychiatrische Einrichtungen auch überlebenswichtige Hilfen anbieten,wird dort wohl niemand kommen. Stattdessen wird ein Opfermythos “Psychiatriepatient” bedient,der in der Forderung auf ein Recht auf irre-Sein mündet. Auf diesen Anspruch hat die Psychiaterin Isabella Heuser aus Berlin mit einem zackigen Statement gekontert: “Ein Recht auf Psychose wäre wie ein Recht auf Krebs!
Wer den linken Diskurs über die Psychiatrie/Antipsychiatrie live verfolgen möchte,kann sich am Mi 12. März in Berlin in der K9 ein Bild machen. Weitere Termine: 5. märz bei MAD in köln, 6. märz in freiburg, kts, 7.märz in frankfurt am main, theoriepraxislokal im IVI, 19.30uhr.
references:
- Kontinuitäten der (Zwangs-)Psychiatrie, von Alice Halmi 2008
- Zwangsregime:Psychiatrie,geschlossene Anstalt,Forensik
- Neue Antipsychiatrie vs. Alte Antipsychiatrie.
- schokolade sieht die ganze sache nicht so pessimistisch
- Dissi war in der K9: einführung in die antipsychiatrie psychose neuer LINK
- Scheckkartenpunk
- Weglaufhaus Saar – Praktikumsbericht Villa Stöckle
Horst-Eberhard Richter, …
einer der massgeblichen Stichwortgeber der modernen, psychoanalytischen Familientherapie seit den 60iger Jahren in D-Land,meldet sich auch aus dem Ruhestand immer wieder zu Wort. Ich habe Horst-Eberhard Richter zuletzt vor ein paar Jahren auf einem ATTAC-Kongress in Berlin wieder getroffen, er wollte wohl diese neue soziale Bewegung in seinem Sinn unterstützen. Für mich war es eine Reminiszenz an die 80iger. Als einen gestandenen Individualisten in der linken Friedensbewegung habe ich ihn eigentlich immer wahrgenommen, seine Kriegsberichte hatten aber immer etwas von “nicht anders können- Mechanik” und unterschieden sich kaum von den Betrachtungen aus der Masse der NS-Tätergeneration. Nun hat sich nichtidentisches ein taz-Interview mit dem Psychoanalytiker vorgenommen,es geht um die Reinszenierung eines um die 20 Jahre alten Soldaten in der NS-Wehrmacht und seine heutigen rhetorischen Mittel, den Soldatenstatus garnicht mehr individualistisch sondern friedensbewegt-antiwestlich zu stilisieren: Horst-Eberhard Richter zwischen Mord und Krieg… Flakhelfer des Islamofaschismus.
PS: Und Wolfgang Benz von der TU-B kommt auch immer beschissener drauf. Na ja, die Emeritierung lässt ja auch nicht mehr lange auf sich warten – “Wolfgang Benz und die deutsche Wissenschaft”
references:
“Das geht ziemlich tief rein”
Politische Nautik
Die Beschreibung von politischen Identitäten ist ein kompliziertes Unterfangen, objektive Zuschreibungen sind kaum möglich, Versuche der Verständigung gibt es aber immer wieder.
Paul von nbfs greift die Diskussion über die Begriffsbestimmungen von links/rechts-Positionen auf und entwickelt verständliche Daten zur aktuellen Zuordnung:
Ausgehend von wikipedia arbeitet er sich zu folgenden Typologien vor:
Zukunft – Vergangenheit
Fortschritt – Tradition
Atheismus – ReligionKollektiv – Individuum
Solidarität – Konkurrenz
Kooperation – Konflikt
Pazifismus – Militarismus
Sehr ausführlich hat sich auch Ex-Blond auf die typologische Reise begeben, und Ergebnis ist eine tabellarische Aufstellung, was Ex-Blond mit links oder rechts frei assoziiert: Links und Rechts.
Zum “Adorno-Hype” der letzten Jahre
Ingo Way hat sich noch einmal die Kritische Theorie vorgenommen. Im Juli 2006 veranstaltete er zusammen mit Sylke Tempel und Michael Holmes im Berliner Haus der Demokratie eine Podiumsdiskussion “Zur Kritik der Kritischen Theorie”. Das Vortragsmanuskript von Michael Holmes ist nun herausgegeben von der Gesellschaft für kritische Philosophie Nürnberg im Druck erschienen und Ingo hat es auf seinem Blog dokumentiert: Zur Kritik der Kritischen Theorie
Vor ein paar Jahren sass ich in der FU-Berlin in einer gut besuchten Veranstaltung vom Sozialreferat. Dort hat der promovierte Philosoph Peter Decker von der MG Adornos Ansätze aus der Dialektik der Aufklärung als “moderne Fortsetzung der Religion” völlig in die Tonne getreten – Horkheimers Anteile wurden bei der Analyse aber nicht extra herausgearbeitet, es ging ja um die Analyse des Standardwerkes der Kritischen-Theorie. Aufklärung könnte der Zitatezettel zur Veranstaltung liefern, an diesem hat Peter Decker seine Argumentation akribisch abgewicklet. Die Veranstaltung mit vielen Diskussionsbeiträgen kann hier abgehört werden. Kurzformel: Hegel sticht Kritische Theorie.
references:
Der große Kompass
Dissertation von Max Bense Online
Anaximander beweist immer wieder die Spürnase eines Trüffelschweins im Netz: Weil sie in den Bibliotheken kaum zu finden ist, ist die Dissertation von Max Bense “Quantenmechanik und Daseinsrelativität” von 1938 jetzt online als .pdf herunterzuladen. via Johannes Auer
Kategorien der Globalisierungskritik – Leggewie
Was versteht man unter Globalisierung, und welche Auswirkungen hat sie? Wie lässt sich Globalisierung politisch gestalten?
Das vermeintliche Schreckenswort ist seit geraumer Zeit in aller Munde und taucht fast unvermeidlich in jeder öffentlichen Äußerung auf. Wo immer man über Globalisierung debattiert, wird sie im Spannungsfeld von Hoffnung und Angst, Euphorie und Verteufelung, Utopie und Ideologie thematisiert. Die Häufigkeit der Auseinandersetzung mit ihr steht aber in keinem Verhältnis zum Niveau dieser Verständigungsversuche: Viel Lärm um nichts?
Der Sammelband ‘Globalisierungswelten‘, der von Marcus S. Kleiner und Hermann Strasser 2003 herausgegeben wurde, will Positionen klären, durch einige Unwegsamkeiten der Debatte um die kulturelle Globalisierung führen sowie ihre Mehrdimensionalität und Mehrdeutigkeit herausarbeiten. ‘Globalisierungswelten’ unternimmt den Versuch, Antworten auf die zentralen Fragen zu geben, was Globalisierung ist, welche Chancen und Risiken sie birgt, welche Deutungen und Kritik das Phänomen der Globalisierung bisher erfahren hat, und vor allem die kulturellen Folgen der Globalisierung aufzuzeigen. Führt die Vision vom ‘global village’ zu einer Nivellierung kultureller und ethnischer Unterschiede oder zu einem Diktat der Toleranz der Unterschiede in der multikulturellen Weltgesellschaft? ‘Globalisierungswelten’ kann und will dem Leser keinen Ariadnefaden an die Hand geben, der sie aus dem Labyrinth der Debatte um die Globalisierung und ihrer Folgen herausführt. Sie beabsichtigt vielmehr, möglichst vielfältige Einblicke in dieses aktuelle Thema zu eröffnen.
Autoren des Bandes sind: Anthony Giddens, Pierre Bourdieu, George Ritzer, Claus Leggewie, Nico Stehr, Franz Nuscheler, Winfried Fluck, Bernd Wagner, Joana Breidenbach, Ulf Poschardt, Loic Waequant, Gerd Nollmann, Hermann Strasser, Marcus S. Kleiner und Marvin Chlada.
Der Politikwissenschaftler Claus Leggewie unterscheidet fünf Kategorien der Globalisierungskritik bzw. Globalisierungsgegnerschaft. via bpb
Erstens die meist linke Kritik der Straße, die unter dem Motto “Eine neue Welt ist möglich” ein anderes Gesellschaftssystem entwickeln möchte. Hier finden sich neben Umweltschützern, Frauenrechtlern und Pazifisten am Rand auch gewaltbereite Gruppierungen wieder.
Zweitens machen Insider-Kritiker wie der ehemalige Vizepräsident der Weltbank Joseph Stiglitz auf die “Defekte” der Globalisierung aufmerksam und versuchen soziale Reformen in den Globalisierungsprozess einzubinden.
Drittens gibt es die akademische Linke, die vor allem gegen die “kulturelle Hegemonie des Neoliberalismus” kämpft.
Viertens knüpft eine religiöse Bewegung an die sozialreformerische Tradition der Kirchen an.
Und fünftens gibt es eine rechtsextreme und nationalistische Strömung, die vor allem für einen starken Nationalstaat sowie die Wiedereinführung von Grenzen und Zöllen eintritt.
Prof. Dr. Claus Leggewie
geb. 1950, ist Professor für Politikwissenschaft an der Universität Gießen. Er lehrte auch an der New York University, der Universität Paris- Nanterre und der Universität Wien. Zuletzt erschien von ihm zusammen mit Erik Meyer „Ein Ort, an den man gerne geht“. Das Holocaust-Mahnmal und die deutsche Geschichtspolitik nach 1945. Claus Leggewie bei suhrkamp
Lesetips:
Rieger/Leibfried:Grundlagen der Globalisierung. Perspektiven des Wohlfahrtsstaates. (suhrkamp 2001)
Zu Pierre Bourdieu eine Polemik in BAHAMAS #50, “Alptraum von einer Sache” von Justus Wertmüller
IGLU-Studie
Es geht um die Eischätzung von Paukern über ihre Schüler und deren Tendenzen zum weiterführenden Schultyp,sprich die Ausleese der Kirpse auf Haupt-,Real- oder Gymnasiumstyp.Das Ergebnis der Studie ist erschreckend,die Lehrer sind doof wie Brot ein Iglu aus Pappschnee – es wurde das Leistungsvermögen der Schüler getestet und mit den Tendenzen der Lehrer verglichen und die Trefferquote der SchulmeisterInnen lag bei 50% -, selbst ein Schimpanse würde nach dem Zufallsprinzip ähnliche Schultendenzen verteilen können.
Ein ähnliches Ergebnis kam übrigens vor über 20 jahren schon über den Aussagegehalt wirtschaftswissenschaftlicher Prognosetätigkeiten heraus,vergleichbar ist das mit Kaffeesatzlesen und Voodoo ist sowieso viel effektiver.
references:
Von den Menschenrechten zum Sozialismus: Was wirklich im Bericht des Sonderberichterstatters Muñoz steht. Verstößt ein dreigliedriges Schul- System gegen die Menschenrechte?
Jean Baudrillard gestorben
(* 27. Juli 1929 in Reims, † 6. März 2007 in Paris) war ein französischer Philosoph und Soziologe.
Sein Buch “Der symbolische Tausch und der Tod” schlug in der ersten Hälfte der 80iger Jahre wie eine Bombe in den geisteswissenschaftlichen Betrieb ein, auch seine Essays im Merve-Verlag haben mich durch die 80iger Jahre immer wieder erheitert. Nach dem Zerfall der europäischen Nachkriegsordnung ist ein alter französchischer Mann übrig geblieben, der seinen Antiamerikanismus facettenreich äussern musste. Ein Denkmal der 80iger verschwindet nun endgültig vom Erdboden, der Antiamerikanismus leider nicht.
- “Der symbolische Tausch und der Tod” Broschiert: 430 Seiten
- Verlag: Matthes & Seitz Berlin; Auflage: 1 (Januar 1982), Sprache: Deutsch
- ISBN-10: 3882212152, ISBN-13: 978-3882212150
references:
European Graduate School Faculty Bibligraphy
wiki.de
anaximander: Jean Baudrillard nachgerufen
der standard:
Mit dem Tod des französischen Postmoderne-Denkers Jean Baudrillard endet eine Ära der Philosophie
die taz trio-verabschiedung via anaximander:
Die taz verabschiedet Jean Baudrillard gleich dreimal. Ines Kappert schreibt den Nachruf auf den französischen Philosophen. Niels Werber verteidigt die Baudrillardsche Theorie der Simulakren gegen Kritiker, und ZKM-Vorstand Peter Weibel erinnert sich an seinen Freund Jean.
Filmtip: Psychiatrie 2007
“Raum 4070“
Sie geht neue Wege,die Psychiatrie. Viel gescholten und wenig zu durchschauen ist diese Institution. Im 3. Reich von den Nazis zu Eugenik und Massenmord benutzt,in der Nachkriegszeit die Vertuschung der Mengeles und Konsorten, die kritische Medizin brauchte bis anfang der 80iger Jahre, um sich von den 12 Jahren Hitlers Weisskittel-Gloria zumindest praktisch abzuwenden und neue Wege zu versuchen – Woody Allens Filme haben die kulturellen Bahnen zur Akzeptanz der Psychoanalyse in der Mittelschicht angelegt, der Streifen “Einer flog übers Kuckucksnest” erschütterte die westliche Öffentlichkeit in den 70igern. Für das gemeine Volk wurde die Sozialpsychiatrie ins Leben gerufen – Einführung von Beschäftigung und Arbeit als zentrales Integrationsmoment der wohnortnahen Therapie – und von den Poststrukturalisten der Foucault-Fangemeinde als Institution der staatlichen Biomacht über das Individuum konstatiert und faktisch aus dem Bewusstsein der Kulturwissenschaft wegbalbiert. Die Folge war: Die Psychiatrie war Ende der 90iger wieder auf der Anklagebank und musste sich rechtfertigen, z.B. auf dem Foucault-Tribunal 1999 in Berlin.
Heutige universitäre Forschungsstände befassen sich intensiv mit der Neurophysiologie und Bildgebung von feinsinnigen Energierastern der Hirnzellverbände, mit Hormonspiegeln und genetischen Dispositionen werden neue Therapien und Diagnosegruppen verdichtet, den Langzeitpatienten werden zunehmend scheussliche pharmakologische Nebenwirkungen vorheriger Patientengenerationen erspart oder zumindest gemildert. Aber auch die Elektroschocktherapie hält wieder Einzug in den Alltag der dt. Kliniken.
Aber was ist genau eine Psychose ? Und wie kommt der einmal so diagnostizierte Mensch durch sein verrücktes Leben möglichst unbeschadet hindurch? Was soll das Label “Krankheit” überhaupt bezwecken? Welche Unterstützung erfahren Angehörige von psychisch erkrankten Menschen durch das Hilfesystem? Oder sind Ärzte nicht genau so hilflos wie die Betroffenen, ausser “try and error” ist nichts gewesen?
Der “new-way” heisst Psychoseseminar (d.h. Betroffene, Profis und Interessierte sitzen zusammen und hören sich gegenseitig zu). Wie das aussehen kann, wird in dem Film “Raum 4070” anhand einer längeren Filmdokumentation des Psychoseseminars an der Psychiatrie von Prof. Stolz in Potsdam sehr konkret dargestellt. Stolz bietet einen Rahmen von Themen und Fragen an, um Psychosen zu verstehen: – Was ist eine Psychose? – Psychosen und Medikamente – Grenzen der Behandlung – Psychosen und Eigensinn – Psychosen und Angst – Psychosen und Belastbarkeit – Psychosen und Gewalt – Psychosen und Beziehung.
Diese Produktion bietet einen einmaligen Blick auf die heutige Psychiatrie, ihre Akteure und deren Bemühen, die Verständigung der Teilnehmer des Psychoseseminars trotz oftmals höchsten emotionalen Anspannungssituationen aufrecht zu erhalten,ohne in einem schwarzen Loch zu verschwinden.
references:
# Raum 4070; Psychosen verstehen, 2 DVD-Videos
Ein Dokumentarfilm; Ein Lehrfilm aus dem Psychoseseminar Potsdam. 117, 142 Min.
Dokumentarfilm v. Jana Kalms u. Torsten Striegnitz, D 2006.
Einband: DVD. Verlag: PSYCHIATRIE-VERLAG
ISBN: 9783884144527. Preis: 24,90 EUR in Deutschland|Österreich
# Potsdamer Neueste Nachrichten
# Filmwissenschaftliche Einordnung: Genre Psychiatrie im Film von Hans J. Wulff, Kiel 2003
Klima,Presse,Szientismus aus novo-mag
UN-Bericht zur Klimaforschung:
Lehrstück über den planetaren Untergang?
Am 2. Februar 2007 veröffentlichte der „Zwischenstaatliche Ausschuss für Klimaänderungen“ (IPCC) seine Zusammenfassung eines Berichts zum aktuellen Stand der Klimaforschung. Die Reaktion auf die Veröffentlichung zeigt, wie stark antihumanistische Affekte inzwischen die Interpretation wissenschaftlicher Erkenntnisse prägen. Von James Woudhuysen und Joe Kaplinsky
„Die politische Debatte über den Klimawandel ist beendet,“ schrieb die Frankfurter Allgemeine Zeitung am 5. Februar, und laut Financial Times haben „die führenden Klimaforscher der Welt die letzten Zweifel an der globalen Erwärmung hinweggefegt“. (1) Auch Achim Steiner, Chef des Umweltprogramms der Vereinten Nationen (UNEP) und Mitbegründer des IPCC, sagte, mit dem neuen Bericht des IPCC (2) werde es nun „unverantwortlich“, neuen Gesetzen, die die Senkung der CO2-Emissionen zwingend vorschreiben, nicht zuzustimmen. (3)
Zweifel, eigentlich ein Schlüsselelement der wissenschaftlichen Methode, ist inzwischen verpönt. Wissenschaft in dieser Form zu instrumentalisieren heißt: sie vergöttern. Politisch aufbereitet und medial kolportiert wird Wissenschaft heute auf ein Podest gehoben und so zum Szientismus degradiert. Sie wird genutzt, um die politische Debatte zu beenden. Anschließend behauptet man, sie bestätige Unvernunft, Hybris, Egoismus und generelle Verwerflichkeit des Menschen. Zu guter Letzt wird das, was wir mit Technologie wirklich erreichen könnten, trivialisiert.
Der britische Umweltminister David Miliband will Al Gores Diashow An Inconvenient Truth jetzt an jede Schule im ganzen Land verschicken. Schon vor Veröffentlichung des IPCC-Berichts forderte der langjährige Kolumnist des britischen Guardian, George Monbiot, eine Reduzierung der Treibgasemissionen um 90 Prozent mit der Begründung, dies sei offenbar das, „was die Wissenschaft fordert“. (4) Im selben Tenor erklärte Sir Nicholas Stern im vergangenen Jahr anlässlich der Präsentation seines Berichts über die Folgen des Klimawandels, die Struktur seiner wirtschaftlichen Berechnungen sei „im Wesentlichen durch die Struktur der Wissenschaft“ bedingt. (5) Das heißt: Inzwischen gilt es als ausgemacht, dass die Klimaforschung sowohl die Politik als auch die Wirtschaft zu bestimmen habe. Die Wissenschaft wird zum großen Diktator. Dissens ist nicht mehr statthaft.
Wir bezeichnen das als „neuen Szientismus“, im Unterschied zum alten, der ironischerweise während des Kalten Krieges von den USA veranstaltet wurde. Damals war die 1948 von der US Air Force mit Unterstützung der Ford Foundation ins Leben gerufene Denkfabrik RAND Corporation bestrebt, „Politik auf eine rein quantitative Disziplin zu reduzieren“ und scheute dabei nicht davor zurück, „die esoterischsten mathematischen Modelle für die Kalibrierung der ‘Kollateralschäden’ eines nuklearen Angriffs einzusetzen“. (6)
Heute bedienen sich Umweltschützer des Szientismus – einer Ideologie also, die sie zu verabscheuen meinen –, um einen neuen Feldzug gegen persönliche Lebensgewohnheiten zu legitimieren, dessen Ziel es ist, das Bewusstsein der Menschen zu kolonisieren und sie zur Übernahme grüner Normen anzuleiten. So fordert David Miliband ein landesweites Programm zur Kohlenstoffrationierung. Warum? Um Menschen und Gemeinschaften als Teil der „mobilisierenden Massenbewegung des kumulativen und konsequenten Radikalismus“ zu „ermächtigen“. (7)
Ebenso wie der alte, so legt sich auch der „neue Szientismus“ die Wissenschaft für fragwürdige politische Zwecke zurecht. So steht im IPCC-Bericht zwar: „Der überwiegende Anteil der beobachteten Zunahme der globalen Durchschnittstemperaturen seit Mitte des 20. Jahrhunderts ist sehr wahrscheinlich eine Folge des beobachteten Anstiegs der anthropogenen Treibgaskonzentrationen.“ Das ist ein Fortschritt gegenüber der Schlussfolgerung des TAR [des ‘Third Assessment Report’ des IPCC aus dem Jahre 2001]: „der Großteil der beobachteten Erwärmung während der letzten 50 Jahre ist wahrscheinlich eine Folge der Zunahme der Treibgaskonzentrationen.“ Erkennbare menschliche Einflüsse erstrecken sich nun auch auf andere Aspekte des Klimas wie die Erwärmung der Ozeane, die kontinentalen Durchschnittstemperaturen, Temperaturextreme und Windmuster. (8)
Zweifel mögen verpönt sein, dennoch sind sie angebracht: Erstens ist wissenschaftlich nicht ohne weiteres nachvollziehbar, wie das IPCC in der Frage des menschlichen Einflusses auf den Klimawandel von „wahrscheinlich“ zu „sehr wahrscheinlich“ gelangt ist. Zu vermuten ist, dass hier politische Einflussnahme im Spiel war. Zweitens stellt sich die Frage, warum die Medien die recht vorsichtige Formulierung „erkennbare menschliche Einflüsse“ dahingehend auslegen konnten, die Menschheit sei ohne jeden Zweifel „schuld“ an der künftigen Klimakatastrophe. Es scheint, als sei der Vorbericht des IPCC weniger gelesen als vielmehr für bereits vorliegende politische Meinungen und Vorurteile in Dienst genommen worden.
Viele sehen in dem IPCC-Bericht einen Anlass, das Ende der Debatte über den Klimawandel zu verkünden. Verantwortlich dafür sind jedoch auch die Verlautbarungen des IPCC und seiner Anhänger selbst: So sagte Achim Steiner, der Tag der Veröffentlichung der Zusammenfassung werde als das Datum in die Geschichte eingehen, „an dem das Fragezeichen entfernt wurde“. Die weitaus vorsichtigeren Formulierungen des IPPC werden nicht zur Kenntnis genommen. Wem an wirklicher wissenschaftlicher Forschung liegt – von politischer Debatte zu schweigen –, sollte es durchaus befremdlich erscheinen, wenn Fragezeichen entfernt werden.
Wo das Gremium Ausdrücke wie „wahrscheinlich“ und „sehr wahrscheinlich“ verwendet, da geschieht dies, um quantitative Wahrscheinlichkeitsniveaus zu markieren, die teils auf Statistiken, teils auf Expertenurteilen beruhen. Die Häufigkeit, mit der diese Ausdrücke in der Zusammenfassung erscheinen, zeigt, dass seine Schlussfolgerungen auf einer Vielzahl möglicher Kausalitäten beruhen – nicht auf definitiven. So findet sich im Bericht nur an zwei Stellen der Ausdruck „nahezu gewiss“, an 26 dagegen „wahrscheinlich“ und an 18 „sehr wahrscheinlich“.
Das IPCC selbst hat weder 2001 noch jetzt die Debatte über den Klimawandel für beendet erklärt. Vielmehr haben Fortschritte in der Theorie und Beobachtung, insbesondere in Hinblick auf unser Verständnis atmosphärischer Aerosolpartikel und in der satellitengestützten Temperaturmessung, das IPCC in die Lage versetzt, seine Vertrauensniveaus von weniger als 90 auf zwischen 90 und 95 Prozent zu erhöhen.
Ursprünge und Status des IPCC-Berichts
Bei dem IPCC-Bericht handelt sich um ein 21-seitiges Papier mit dem Titel Summary for Policymakers, das nur 13 Seiten Text und sieben Seiten Grafiken zählt. Es wurde von 33 Wissenschaftlern und weiteren 18 Autoren verfasst. Es ist somit nicht zu verwechseln mit dem eigentlichen Bericht Climate Change 2007: The Physical Science Basis, der als erster Band von Climate Change 2007, auch Fourth Assessment Report (AR4) genannt, Ende April erscheinen soll und an dem 600 Autoren aus 40 Ländern sowie 620 wissenschaftliche und eine Vielzahl politischer Gutachter mitarbeiten. (9) Auch ist an diesem ersten Band nur die „Arbeitsgruppe I“ des IPCC beteiligt. Während sich die „Arbeitsgruppe III“ u. a. mit den bekannten Strategien für die Minderung der Treibgasemissionen unter dem Schlagwort „Reduzierung“, darunter auch mit Steuerstrategien und Emissionshandel, befasst, setzt sich die „Arbeitsgruppe II“ mit „Folgen, Anpassung und Verwundbarkeit“ auseinander. (10) Hierbei geht es um die Anpassung an den Klimawandel, also um die Frage, wie in einem wärmeren Klima Hydrologie, Landwirtschaft, Küstenanlagen, Industrie und menschliche Siedlungen zu gestalten seien – ein Thema, das an sich viel interessanter ist, aber in den Medien deutlich geringeres Interesse findet als die Reduzierung. (11) Eines ist jedoch klar: Es handelt sich beim aktuellen Bericht des IPCC um eine äußerst komprimierte Zusammenfassung eines von drei Bänden eines sehr voluminösen Werkes.
Diese Zusammenfassung ist Teil einer Reihe von Übersichtsberichten, mit denen Regierungen wissenschaftlicher Rat zuteil werden soll. Das IPCC führt selbst keine wissenschaftliche Forschung durch, sondern prüft bestehende Forschungsergebnisse und fasst sie zusammen, was sicher eine sinnvolle Aufgabe ist. Prinzipiell soll das IPCC politisch neutral sein und nur die Tatsachen präsentieren, auf die Politik sich stützen kann. Aber in einer Zeit, in der viele meinen, Wissenschaft habe politisch präskriptiv zu sein, interessieren sich Regierungen immer stärker für die Bewertungen des IPCC, und das IPCC selbst wird zunehmend politisiert. Obwohl von Wissenschaftlern verfasst, wurde die Zusammenfassung vor Veröffentlichung Zeile für Zeile von Regierungsvertretern und Vertretern von Organisationen wie der Internationalen Handelskammer, der International Petroleum Industry Environmental Conservation Association und des International Aluminum Institutes sowie Friends of the Earth und Greenpeace überprüft, damit die Botschaft passt. (12)
Vergleich der Prognosen
Die Aussagen des IPCC sind weit weniger definitiv, als die Medienreaktionen suggerieren. Das lässt sich exemplarisch an der Behandlung der Temperaturtrends und etwas ausführlicher am Thema Eis und Meeresspiegel aufzeigen. Die möglichen Temperaturanstiege, die die Zusammenfassung prognostiziert, unterscheiden sich nur geringfügig von denen des Third Assessment Report aus dem Jahr 2001. Die „zuverlässigste Schätzung“ nennt einen Temperaturanstieg um 1,8 bis 4,0 Grad Celsius bis zum Jahr 2100. Der Bericht beschreibt einen Anstieg um weniger als 1,1 oder mehr als 6,4 Grad Celsius als „nicht wahrscheinlich“. Schon das weist auf die mangelnde Seriosität von Kommentatoren wie Monbiot und Stern hin, die bis zu 11,5 Grad Celsius als annehmbar angaben. (13)
Wie steht es um das Eis und die Meere? Al Gore warnt, dass, wenn das Eis in Grönland oder der Antarktis schmelze, der Meeresspiegel um bis zu sechs Meter steigen könne. Auf seinen Landkarten sind Florida, San Francisco, Peking, Kalkutta und die Niederlande in den Fluten versunken. Noch weiter geht die britische Tageszeitung Independent. Mit Hinweis auf den IPCC-Bericht als „letzter Warnung“ schreibt der Ökologe Mark Lynas auf der Titelseite, bei einem Temperaturanstieg um 5,4 Grad werde „der gesamte Planet eisfrei und der Meeresspiegel 70 Meter höher sein als heute“. (14) In welchem Verhältnis stehen diese Prognosen zur Zusammenfassung des IPCC? Sie betrachtet eine Reihe von Szenarien, in denen keine besonderen Maßnahmen getroffen werden, um die Treibhausgasemissionen zu reduzieren. Die Schlussfolgerung: Bis 2100 könnte der Meeresspiegel um zwischen 18 und 59 Zentimeter steigen.
Dort, wo das IPCC spekulative Aussagen über die Folgen eines „vollständigen Abschmelzens der Eisdecke Grönlands und eines dadurch bedingten Anstiegs der Meeresspiegel um etwa sieben Meter“ trifft, bezieht sich dies auf ein Szenario, in dem das Abschmelzen nicht bis 2100, sondern über Jahrtausende anhält. (15) Und die Antarktis? Zwar stellt der Bericht fest, ein Nettoverlust der Eismasse könne eintreten, wenn die Eisdecke von „dynamischem Eisabbau“ geprägt werde, also wenn Eisstücke abbrechen statt zu schmelzen. Doch dieser Feststellung vorangestellt ist die Beobachtung, dass gemäß aktueller globaler Modellstudien die antarktische Eisdecke „für großflächiges Abschmelzen der Oberfläche zu kalt bleiben wird und aufgrund zunehmender Schneefälle ein Anwachsen ihrer Masse erwartet wird“. (16)
Katastrophenliebhaber wie Gore beziehen sich auch gerne auf jüngere Erklärungen, dass das Eis möglicherweise viel rascher schmelze als bislang angenommen. Doch auch hier bleibt das IPCC sachlicher. In seinem Bericht heißt es: „Die heute eingesetzten Modelle berücksichtigen nicht die Gesamtfolgen von Veränderungen der Bewegungen der Eisdecken, denn hierfür gibt es in der Literatur keine Grundlage. In den Prognosen berücksichtigt ist ein Beitrag durch einen höheren Eisabgang aus Grönland und der Antarktis in den für den Zeitraum 1993 bis 2003 beobachteten Größenordnungen, aber diese können sich künftig erhöhen oder abnehmen.“ (17)
Was neuere Studien betrifft, so weist das IPCC darauf hin, dass eine Zunahme der Schmelzrate einen Anstieg des Meeresspiegels um 10 bis 20 Zentimeter nach sich ziehen könne. Höhere Werte ließen sich nicht ausschließen, aber das „Verständnis dieser Effekte ist zu beschränkt, um ihre Wahrscheinlichkeit zu bewerten oder eine zuverlässige Schätzung oder Obergrenze für den Meeresanstieg anzugeben“. (18) Die beunruhigendsten Prognosen für die Entwicklung der Meeresspiegel beruhen ausnahmslos auf dem Abschmelzen der grönländischen oder antarktischen Eiskappen. Doch das IPCC ist, wie gesagt, zu der Auffassung gelangt, dass solche Prozesse Jahrtausende benötigen würden. Gore, Monbiot, Stern und andere dagegen behaupten, wir müssten viel kürzere Zeitfenster in Betracht ziehen, wobei der Wirtschaftswissenschaftler Stern sich in Spekulationen darüber ergeht, dass eine Erwärmung der Ozeane und beschleunigte Eisabgänge zu einem „rasanten Eisabbau“ führen könnten.
Während das IPCC 2001 nur ein Vertrauensniveau von 90 Prozent für die Aussage angab, dass der Klimawandel anthropogen verursacht sei, zog es Stern in seinem Bericht vor, darauf überhaupt nicht einzugehen, sondern willkürlich eine fast zehnprozentige Wahrscheinlichkeit ins Spiel zu bringen, dass die Menschheit bis 2100 ausgelöscht sein werde und es zudem schwache Hinweise dafür gebe, dass diese Wahrscheinlichkeit „noch höher“ liege. (19)
All das ist Quacksalberei und degradiert die Wissenschaft. Im „neuen Szientismus“ werden die Fakten immer so gewählt, dass sie Katastrophe und Untergang ergeben. Weder werden die wirklichen Inhalte der wissenschaftlichen Befunde zumindest oberflächlich, noch, wie wir im Weiteren zeigen möchten, die möglichen technischen Lösungen zur Kenntnis genommen.
Konsens und Katastrophe
Wissenschaft beruht auf Nachweis- und Falsifizierbarkeit. Jeder Konsens ist immer offen für neue Erkenntnisse – das ist der Geist der wissenschaftlichen Methode. Natürlich besteht ein Konsens, dass die Schwerkraft existiert und die Erde rund ist. Aber in diesen Fällen geht es um wissenschaftliche Grundsätze, die experimentell über Jahrhunderte hinweg immer wieder erhärtet wurden. Die Klimaforschung ist nicht so definitiv. Zudem nehmen Ideologen heute die Idee des wissenschaftlichen Konsens für Dinge in Anspruch, die überhaupt nicht wissenschaftlich sind. Das Kernproblem mit dem aktuell unterstellten Konsens über Klimaforschung ist weniger, dass man irrtümlich behauptet, man wisse genau, wie das Klima funktioniert, sondern vielmehr die Unterstellung, solches Wissen könne uns sagen, wie wir unser Leben zu leben hätten
Der reale Konsens über den Klimawandel ist heute eher politisch als wissenschaftlich. Es ist ein Konsens, der emotionaler Angst Vorrang einräumt und auf apokalyptischem Denken und Zweifel an den Leistungen und Fähigkeiten der Menschheit beruht.
Dieser Konsens wird durch Medienkampagnen zu Anlässen wie der Veröffentlichung des IPCC-Berichts in die Sprache der Klimakatastrophe übertragen. Typisch hierfür waren die One O’Clock News auf BBC1 am 2. Februar: Sie boten einem Vertreter von Friends of the Earth viel Zeit für angsterzeugende Betrachtungen. Auf dem gleichen Kanal begannen die Ten O’Clock News später mit einem verhängnisverheißenden Bericht über das Wetter auf der ganzen Welt. David Shukman beschrieb die Erde als „sehr fragil“ und warnte, sie könne „außer Kontrolle geraten“ – ein interessantes Konzept! Dies hätte dann „katastrophale Folgen“, fügte er hinzu. Keine dieser Formulierungen steht in der IPCC-Zusammenfassung.
Der Hauptbeitrag auf Newsnight wurde von der Wissenschaftsredakteurin Susan Watts präsentiert, die erklärte: „Wissenschaftler sagen seit geraumer Zeit, die Zukunft sei düster.“ Aber von einer düsteren Zukunft ist an keiner Stelle des IPCC-Berichts die Rede. Watts Beitrag über die Erkenntnisse des IPCC war wissenschaftlich mager, stark dagegen waren die Musik (niedergeschlagen) sowie die Computergrafiken (unheimlich).
Auf der Pressekonferenz zur Vorstellung des Berichts wurde Dr. Susan Solomon, Expertin für Atmosphärenforschung bei der US National Oceanic and Atmospheric Administration und Mitverfasserin der Summary, gefragt: „ Sie haben in Ihrer Darstellung der Ergebnisse eine deutlich objektive, neutrale, wissenschaftliche Haltung eingenommen. Darf ich Sie jetzt vielleicht bitten, zusammenzufassen, welche dringenden Schlussfolgerungen der Bericht der Politik nahelegen soll?“ Solomon antwortete: „Ich kann Ihnen nur etwas sagen, was Sie enttäuschen wird, Sir. Es ist meine persönliche wissenschaftliche Haltung, dass es nicht meine Aufgabe ist, Handlungsempfehlungen zu geben. Ich glaube, dies ist eine gesellschaftliche Entscheidung. Die Wissenschaft liefert einen Beitrag zu dieser Entscheidung, und die Wissenschaft dient der Gesellschaft am besten, wenn sie sich auf ihre Fachkenntnis beschränkt. Daher denke ich nicht, dass es im besten Interesse der Gesellschaft und ihrer verantwortlichen Entscheidungsfindung wäre, wenn ich jetzt Dringlichkeit beschwören oder bestimmte Maßnahmen fordern würde.“
Die Aussage von Solomon wurde in die Berichterstattung der BBC nicht aufgenommen, wohl aber die von Achim Steiner, nach eigenem Bekunden langjähriger Experte für „nachhaltige Entwicklung und Umweltmanagement“ mit „Erfahrung aus erster Hand mit Organisationen der Zivilgesellschaft, Regierungen und globalen Institutionen“. Er lieferte den passenden Soundbite: Die Zusammenfassung habe ihm „Schauer den Rücken hinuntergejagt“, erklärte er.
Diese Art emotionaler Betroffenheit legitimiert offensichtlich alles. Sie gestattet einerseits viel Aufregung – weniger über das Klima als über die Verkommenheit der Menschen. In diesem Sinne äußerte sich auch Mark Lynas: “[Wir] werden ständig aufgefordert, mehr Kleidung zu kaufen, exotischere Lebensmittel zu uns zu nehmen und sportlichere Autos zu fahren. Wir sollen luxuriös leben wie David Beckham, mehr Urlaub in sonnigen Regionen machen und die lokalen Nahrungsmittelproduzenten vernachlässigen.“ (20) Hier erscheinen alltägliche Lebensgewohnheiten als Verhunzung des Planeten und Aktivitäten, die man als erfreulich empfinden könnte, als besonders verhunzt.
Die historische Bedeutung des „neuen Szientismus“
Auf den ersten Blick erstaunt der Status, der der Wissenschaft jetzt eingeräumt wird. Schließlich hat die britische Regierung gerade erst den Exodus aus der Physik und Chemie an Oberschulen und Universitäten bemerkt. Finanzminister Gordon Brown spricht zwar laufend über Wissenschaft, Technologie und Innovation, aber Großbritannien hat im Jahr 2005 weniger als 2 Prozent des Bruttoinlandsprodukts für Forschung und Entwicklung (F&E) ausgegeben – also noch weniger als die 2,1 Prozent Ende der 90er-Jahre und weniger als der Durchschnitt der EU-25-Staaten (einschließlich Osteuropa) und der OECD-Staaten. (21)
Zudem ist das Ansehen der Wissenschaft auch unter Umweltaktivisten nicht gerade hoch. Diese haben dafür gesorgt, dass genetisch veränderte Lebensmittel in der EU verboten sind. Sie würden gern die Atomphysik abschaffen und hegen oft starke Abneigung gegen Wissenschaftler, die für große Pharmaunternehmen arbeiten. Im Fall der Klimaforschung hingegen berufen sich Umweltaktivisten gerne auf die Tätigkeit von Gremien wie dem IPCC. Gleichzeitig werden Minister, die sonst nicht viel Geld oder Energie in die Förderung der Wissenschaft investieren, plötzlich leidenschaftliche Anhänger wissenschaftlicher Erkenntnis. Wie ist das zu erklären?
Es ist wichtig zu verstehen, dass der neue ebenso wie der alte Szientismus mit Respekt für die Wissenschaft wenig zu tun hat. Es geht um die Vergötterung der Natur. Sobald aber die Natur über die Menschen gestellt wird, wird Wissenschaft zur bloßen Botschafterin der Natur, die den dummen Menschen verkündet, sie müssten sich ihrer Dummheit bewusst werden. Grüne mögen den Szientismus der RAND Corporation aus den 50er-Jahren des vergangenen Jahrhunderts verabscheuen, dennoch haben sie ihm frisches Leben eingehaucht. Sie nutzen die Wissenschaft, um uns einzureden, wir sollten unsere Erwartungen senken – für unser persönliches Leben hier und jetzt und das der zukünftigen Gesellschaft.
Wir brauchen in der Klimaforschung mehr und bessere Wissenschaft und weniger impulsive Reaktionen. Außerdem müssen wir die Wissenschaft für Debatten und neue Erkenntnisse offenhalten. Und vor allem müssen wir das Vertrauen in menschliches Handeln und unsere Fähigkeit, ganz neue Lösungen zu finden, stärken.
Alle Regierungen Europas präsentieren zurzeit Investitionen in erneuerbare Energien, die Senkung der Emissionen und das Energiesparen als die unhinterfragbar einzigen Antworten auf Klima- und Energieprobleme. Dabei nutzt man Kampagnen der Umweltschützer, um uns einzubläuen, dass Energiesparen nicht nur verantwortungsvoll, sondern auch schick und modern sei. So finanziert die britische Regierung eine besonders geschmackvolle Kampagne von Friends of the Earth an Universitäten, deren Plakate mit Kondomen überzogene Schornsteine, Auspuffanlagen und Flugzeugmotoren zeigen. (22)
Dass Wissenschaft nicht inhaltlich zur Kenntnis genommen, sondern nur genutzt wird, um den Menschen ein schlechtes Gewissen zu machen, zeigt, wie wenig Vorstellungskraft unsere grün orientierten Eliten bzgl. der Fortschritte, die die Menschheit erreichen kann, heute haben.
Leider befasst sich keine Arbeitsgruppe des IPCC mit dem, was wir als überlegene Option betrachten würden: die Humanisierung der Erde durch ehrgeizige technologische Transformationen, mit denen sich auch das Problem anthropogener Erderwärmung lösen ließe. Ambitionierte technologische Projekte betrachten Umweltschützer als Ausdruck neokonservativen Machbarkeitswahns. Wer das Kiotoprotokoll ablehnt und stattdessen für Lösungen plädiert, die die Raumforschung mit einbeziehen, wie es die US-Regierung vorgeschlagen hat, gilt inzwischen dem Guardian als schlicht verrückt. (23) Anspruchsvolle Konzepte sind verpönt. Der „neue Szientismus“ predigt stattdessen persönliche Verantwortung und Verzicht: Wer nicht versuche, sein Leben zu verändern, sei verdammt. Denn die Natur habe uns enge Grenzen gesetzt – Ende der Geschichte. Flugzeuge könnten nie emissionsärmer werden und die Atomkraft nie wirtschaftlich oder sicher. In diesem Denken wird Wissenschaft zum alttestamentarischen Gott.
Aus dem Englischen übersetzt und bearbeitet von Sabine Reul.
James Woudhuysen ist Professor für Forecasting und Innovation an der De Montfort University. Joe Kaplinsky ist Wissenschaftspublizist. Ihr Artikel ist (in längerer Originalfassung) unter dem Titel „A man-made morality tale“ auch im britischen Novo-Partnermagazin Sp!ked (www.spiked-online.com) erschienen. Woudhuysen veröffentlichte zuletzt in Novo85 seinen Artikel „Outsourcing oder organisierte Verantwortungslosigkeit?“. Kaplinsky argumentierte in Novo78 in seinem Artikel „Rettet die globale Erwärmung die Atomkraft?“, dass die Debatte um die Atomkraft nicht gewonnen werden könne, wenn man sich hinter Weltuntergangsszenarien verstecke.
Anmerkungen
(1) IPCC: Summary for Policymakers, 2.2.07, www.ipcc.ch/pub/spm22-01.pdf.
(2) Fiona Harvey: „Scientists dispel global warming doubts“ in: Financial Times, 3.2.07, www.ft.com/cms/s/
10f7d396-b20d-11db-a79f-0000779e2340.htm.
(3) ebd.
(4) George Monbiot: Heat, Allen Lane 2006, S. XV.
(5) HM Treasury: „Stern Review on the Economics of Climate Change“, Part I, S. 38,
www.hm-treasury.gov.uk/independent_reviews/stern_review
_economics_climate_change/stern_review_report.cfm.
(6) John Gillott / Manjit Kumar: Science and the retreat from reason, Merlin Press 1995, S. 176f.
(7) zitiert in: „Carbon ‘credit card’ considered“ in: BBC News, 11.12.06, http://news.bbc.co.uk/2/hi/uk_news/politics/6167671.stm.
(8) IPCC: Summary for Policymakers, 2.2.07, www.ipcc.ch/pub/spm22-01.pdf, S. 8.
(9) IPCC-Presseerklärung: „IPCC adopts major assessment of climate change science“, www.ipcc.ch/press/prwg2feb07.htm.
(10) „Outline for the IPCC Working Group I contribution to the Fourth Assessment Report: Climate Change 2007: The physical science basis“, in: www.ipcc.ch/activity/wg1outlines.pdf.
(11) „Outline for the IPCC Working Group III contribution to The Fourth Assessment report Climate change 2007: Mitigation of climate change“, www.ipcc.ch/activity/wg3outlines.pdf, sowie „Outline for the IPCC Working Group II contribution to The Fourth Assessment report Climate change 2007: impacts, adaptation and vulnerability“, www.ipcc.ch/activity/wg2outlines.pdf.
(12) James Kanter / Andrew C. Revkin: „Last-minute wrangling on global warming report“ in: International Herald Tribune, 1.2.07, www.iht.com/articles/2007/02/01/news/warm.php?page=1.
(13) George Monbiot: Heat, Allen Lane 2006, S. 13; HM Treasury: „Stern Review on the Economics of Climate Change“, S. 12f., www.hm-treasury.gov.uk/independent_reviews/stern_
review_economics_climate_change/stern_review_report.cfm.
(14) Mark Lynas: „Global warming: the final warning“ in: Independent, 3.2.07, http://news.independent.co.uk/environment/
article2211566.ece.
(15) IPCC: Summary for Policymakers, 2.2.07, www.ipcc.ch/pub/spm22-01.pdf, S. 13.
(16) ebd.
(17) ebd., www.ipcc.ch/pub/spm22-01.pdf, S11.
(18) ebd.
(19) HM Treasury: „Stern Review on the Economics of Climate Change“, S. 16, 47,
www.hm-treasury.gov.uk/independent_reviews/stern_review
_economics _climate_change/stern_review_report.cfm.
(20) Mark Lynas: High tide: news from a warming world, Harper Collins 2004, S. 296f.
(21) OECD: „Key figures from 2006/2 issue of Main Science and Technology Indicators“, www.oecd.org/dataoecd/49/45/24236156.pdf.
(22) Presseerklärung von Friends of the Earth: „Condoms turn students onto climate change“, 28.1.07, http://www.foe.co.uk/resource/press_releases
/condoms_turn_students_on_t_26012007.html.
(23) David Adam: „US answer to global warming: smoke and giant space mirrors“ in: Guardian, 27.1.07, http://environment.guardian.co.uk/climatechange
/story/0,1999968,00.html.
Milton Friedman
Ökonomie für Dummies. Unterhaltsame TV-Präsentation von ökonomischen Grundfragen. via anaximander